Finde dein eigenes Tempo, dann geht dir nie der Atem aus.

Ich versuche dran zu bleiben. Will den Windschatten nutzen, um Kraft zu sparen. Es bläst starker Gegenwind. Dem jungen Mann vor mir scheint das nichts auszumachen. Mir dagegen schon. Eine scharfe Linkskurve und es geht die Serpentinen hinauf in das andalusische Hochgebirge. Mit großem Aufwand und Krafteinsatz bleibe ich dicht hinter ihm. Fahr langsamer, Herrgott nochmal! Noch eine Schleife, dann muss ich ihn ziehen lassen.

Ich steige vom Rad. Setze mich auf einen Stein und spüre das Blut in meinen Adern pulsieren. Ich wollte Kraft sparen und bin nun völlig ausgepowert. Ich habe mich wohl übernommen. Was ist da gerade passiert? Habe ich gerade meine Grenzen kennengelernt? Bin ich wieder mal meinem Ego begegnet?

Warum muss ich mich immer so beeilen? Wieso fahre ich das Tempo eines anderen?

Was hat das Tempo der anderen mit mir zu tun? Der junge Mann hatte ein Rennrad und kein Gepäck. Ich war mit einem alten Trekkingrad und 25 KG Gepäck unterwegs. Er hat einen Tagestrip gemacht, ich eine Radreise. Warum lasse ich mich in meinem Handeln durch andere beeinflussen?

Eine zwölf tägige Radreise ist wie ein Spiegelbild des Lebens. Einige Passagen sind wunderschön, andere eher langweilig und monoton. Eben lief es wie geschmiert, jetzt hast du einen Plattfuß. Manchmal geht es bergauf, manchmal bergab. Heute hast du Gegenwind, morgen Rückenwind.

Welchen Sinn ergibt es, sich dabei zu beeilen? Ausgepowert und früher am Ziel sein? Das Leben an sich vorbeifliegen lassen? Ein Leben auf der Überholspur? Nicht mitzubekommen, wie schön es rechts und links ist? Immer auf das Ziel und eine starke Performance fokussiert zu sein? Ist das der Sinn des Lebens?

Das Leben hat dir eine Gangschaltung geschenkt, damit du sie einsetzt.

Wenn es läuft, gib Gas. Wenn es anstrengend ist, schalte einen Gang runter. Finde deine eigene Übersetzung und bleib in deinem Rhythmus.

Vor mir, hinter mir, rechts von mir, links von mir, bergauf, bergab, soweit das Auge reicht: Olivenhaine. Seit zwei Tagen das gleiche Bild. Ich verlasse den Asphalt und biege auf einen Schotterweg ab.

Es fängt an zu regnen. Zunächst genieße ich das und freue mich über die willkommene Abkühlung. Diese verwandelt sich von jetzt auf gleich in eine Wand aus Wasser. Als dann beide Reifen abrupt blockieren und ich im Schlamm feststecke, ist es vorbei mit der Freude. Der gut befahrbare Schotterweg entpuppt sich als klebriger andalusischer Lehmboden. Dieser hat sich um meine Reifen gewickelt und sich zwischen Schutzblech, Reifen und Bremse eingekeilt. Mit den Fingern versuche ich die teigartige Masse zu entfernen. Wer schon mal selbst Pasta Teig gemacht hat, weiß was das bedeutet.

Nach ca. 15 Minuten habe ich blutige Finger, aber das Vorder- und Hinterrad befreit, das Gepäck wieder aufgeladen und fahre weiter. Ich schaffte genau zwei Umdrehungen, dann ist alles wieder verklumpt. Ich wiederholte das Ganze und entschließe mich dazu, das Fahrrad zu schieben. Wieder schaffe ich genau zwei Umdrehungen.

Shit!

Was soll ich jetzt machen? Dann kommt mir eine Idee, für die ich später den Nobelpreis bekomme.

Denke ich zumindest. Ich nehme das Gepäck runter, montiere die Schutzbleche ab und lade das Gepäck aufs. Nur, es bringt rein gar nichts. Doch kein Nobelpreis!

Okay, langsam gehen mir die Ideen aus.
Fahrrad an einen Baum ketten, Wertsachen mitnehmen und laufen?
Per Anhalter auf einen Trecker warten, der sich erbarmt mein Fahrrad einzusammeln?
Warten bis es aufhört zu regnen und der Boden getrocknet ist?
45 Kg die sieben Kilometer bis zur nächsten Straße tragen? Auf keinen Fall!

Stille.

Dann gehe ich los. Zehn Meter gehen, Pause. Zehn Meter gehen, Pause. Zehn Meter gehen, Pause… Nach gut drei Stunden betrete ich Asphalt. Und als wenn mich das Leben belohnen will, wartet 500 m weiter eine Tankstelle mit Waschstraße auf mich.

Da ich keinen geeigneten Platz für mein Zelt finde, belohne ich mich mit einem echten Bett in einem Hostel.

Kurz vor dem Einschlafen frage ich mich, warum ich aus der Situation kein Drama gemacht habe.

Es ist der vierte Tag meiner Radreise von Malaga nach San Sebastian und ich durfte in den ersten drei Tagen erfahren, dass sich das Leben nicht an meine romantischen Vorstellungen hält: den ersten Platten noch am Flughafen, aus Versehen auf die Autobahn gefahren, ungewöhnlich viel Regen in Andalusien, die Anstrengung des permanenten Bergauf-Fahrens total unterschätzt und ein Navi, das jede Gelegenheit falsch abzubiegen, sicher wie einen Elfmeter verwandelt.

Ich habe bereits stundenlang geflucht, gezweifelt und das Schicksal verdammt. Meine Wut, mein Selbstmitleid und meine Sorge scheinen aufgebraucht. Ich habe losgelassen. LEINEN LOS!

Nimm an, was ist. Widerstand kostet nur unnötig Kraft!

Bevor ich schlafen gehe, schreibe ich mir auf:

Bleib im Moment und nimm an, was ist. Das macht alles viel leichter.
Mach Dich nicht zum Opfer, dann brauchst Du keine Schuldigen und kein Drama.
Eine Radreise ist ein Spiegel des Lebens. Welchen Sinn ergibt es, früher ans Ziel zu kommen?

Und in Gedanken an das „Rheinische Grundgesetz“ schlafe ich mit einem Lächeln ein.

Et es wie et es. Et kütt wie et kütt. Et hätt noch immer jot jejange.