Am Nachbartisch sitzt ein älteres Ehepaar. Halb aus Neugierde, halb wird es mir aufgedrängt, kann ich dem Gespräch der beiden folgen.

Sie: Hermann, jetzt fliegen wir schon seit 20 Jahren jedes Jahr hier nach Arta auf Mallorca.
Er: Ja.
Sie: Und seit 20 Jahren frühstücken wir hier in diesem Café.
Er: Ja.
Sie: Und seit fast 20 Jahren arbeitet hier diese eine Kellnerin.
Er: Ja, stimmt.
Sie: Meinst du nach fast 20 Jahren spricht die auch nur ein Wort Deutsch?

 


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Puh!

Das ist mal eine Sichtweise! Die alte Dame hatte recht. Die Kellnerin sprach kein Wort Deutsch.

Es ist erstaunlich zu erleben, wie unterschiedlich wir Menschen, ein und dieselbe Situation wahrnehmen. Man kann die Aussage gut oder schlecht finden oder sie einfach nur so stehen lassen. Schmunzeln, musste ich in jedem Fall.

So skurril die Situation auch war, eines macht sie deutlich.

Es gibt keine universelle Wirklichkeit. Jeder von uns lebt in seiner eigenen Welt. Mit eigenen Gedanken, Gefühlen, Wertvorstellungen, Beobachtungen und eigenen Schlussfolgerungen.

Manch einem mag das befremdlich vorkommen. Wir alle versuchen schließlich mehr oder weniger, besser oder schlechter unsere gesellschaftlichen Werte und Normen zu leben. Manche Dinge macht MAN eben nicht, andere sind ein MUSS und manches gehört sich einfach nicht!

Ist das wirklich so?

Führen diese angenommenen Verhaltensnormen nicht viel eher dazu, dass wir pausenlos andere Menschen (und auch uns selbst) be- oder verurteilen? Erzeugen wir dadurch nicht Spannungsfelder, die kein Mensch braucht? Mein erster Gedanke über die Dame aus dem Cafe in Arta war abfällig.

Aber wie viele Meter bin ich in ihren Schuhen gelaufen? Wie oft habe ich die Welt durch ihre Augen betrachtet?

Wir gehen gemeinsam ins Kino, ins Stadion oder ins Restaurant. Obwohl wir nebeneinander sitzen, das gleiche Spiel sehen, das gleiche Gericht essen, schaut jeder seinen eigenen Film.

Wenn wir verstehen, dass jeder Mensch aufgrund seiner Sozialisierung und Genetik einzigartig ist, Situationen individuell erlebt, mit seinen Erfahrungen und Werten abgleicht und entsprechend seiner subjektiven Wahrnehmung einordnet, dann fällt es uns deutlich leichter verschiedene Standpunkte und Handlungen zu respektieren.

Verschiedene Meinungen dürfen plötzlich nebeneinanderstehen. Sind wir uns dessen bewusst, empfinden wir sie als Bereicherung.

Je häufiger und deutlicher wir uns das erleben, desto leichter wird es uns fallen die Meinungen und Standpunkte anderer Menschen zu akzeptieren. Auch das eigene Denken, Fühlen, Handeln oder Unterlassen braucht nun keine Rechtfertigung mehr. Auch nicht von oder vor uns.

Jeder von uns lebt in seiner Welt. Du in deiner, ich in meiner.

 

 

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