Endlich ankommen. Lohnenswert?

Dem Gefühl, endlich angekommen zu sein, laufen viele hinterher. Endlich angekommen zu sein, kann sich sehr schön anfühlen. Aber taugt es auch als Ziel? Brauchen wir überhaupt Ziele? Wenn ja, wofür? Wieso stellt man uns oft die Frage: Welche Ziele hast du noch?

Ich bin gerade 14 Tage mit dem Fahrrad durch den Norden Norwegens gereist. Vor der Reise habe ich mir geschworen, anders als bei meiner Radreise durch Spanien, ganz entspannt und gemächlich in die Pedale zu treten. Diese Reise wird kein Radrennen um schnellstmöglich am Ziel zu sein.

Es gelingt mir. Ich fahre gemütlich. Über viele Tage. Dann, an meinen letzten Tagen, nehme ich mir vor, nach Reine, ans Südende der Lofoten zu fahren. Für die restlichen zwei Tage will ich mir ein schönes Fleckchen für mein Zelt suchen, entspannen, in die Berge gehen und dann zum Abschluss mit der Fähre zum Flughafen nach Bodø übersetzen.

Die Strecke beträgt gut 100 km. Es geht ausschließlich bergauf und bergab. Bereits nach der Hälfte der Strecke spüre ich die Müdigkeit und Erschöpfung. Ich fühle mich gestresst und gehetzt. Aber ich habe ein lohnendes Ziel. Es warten zwei Tage ohne Fahrradfahren auf mich und die Gewissheit, ich habe es geschafft.

Ich beiße mich durch und quäle mich bei jedem Tritt. Dann bin ich in Reine. Endlich. Ich habe mein Ziel erreicht. Endlich angekommen. Und jetzt?

Reine ist umgeben von zig steilen Bergen, die nahezu im 90° Winkel aus dem Boden schießen. Hier gibt es nur Steilküste. Es ist inzwischen 23 Uhr. Ich fahre die Gegend ab und halte die Augen nach einem Platz für mein Zelt offen. Nicht Brauchbares da. Ich frage einen Einheimischen, ob er eine Idee hat. „Es gibt einen Campingplatz, knappe Stunde von hier entfernt.“ Gerädert komme ich am Campingplatz an. Ausverkauft.

Ich fahre weiter. Gut zehn Kilometer weiter endet die Straße abrupt. Endstation. Wieder bin ich angekommen. Mein Zelt stelle ich, mehr schlecht als recht, auf einer Klippe auf. Tolle Aussicht, aber mitten im Sturm und Regen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Völlig fertig koche ich mir eine Suppe und frage mich, wie mir das passieren konnte. Die Tage zuvor bin ich ohne konkretes Ziel einfach Richtung Süden geradelt. Ich habe unzählige Erinnerungen an Pausen, wunderschöne Plätze, selbst gekochten Kaffee in den Fjorden und entspannte Stunden in der Hängematte in traumhafter Natur.

Meine Sinne waren offen für alles, was mir Norwegen angeboten hat. Und ich habe rechts und links des Weges mit beiden Händen dankend zugepackt.

Ich spürte riesige Neugierde, totale Glückseligkeit und war nahezu immer im Moment. Meine Gedanken schliefen. Ich habe wahrgenommen und genossen.

Auch an meinem letzten Tag habe ich umwerfende Schlafplätze gesehen. Aber ich wollte ja mein Ziel erreichen. Ich wollte ankommen.

In der Businessplanung, im Projektmanagement, im Vertrieb und auch in der Literatur über Persönlichkeitsentwicklung und Coaching-Prozesse finden wir unisono die Meinung, dass Ziele konkret, messbar und erreichbar formuliert werden sollen. Viele Menschen sagen, ohne ein konkretes Ziel vor Augen, fehlt ihnen der Antrieb, die Motivation und manchmal sogar der Sinn.

Ich frage mich, wofür sollten Ziele so formuliert sein? Zu welchem Zweck brauchen wir überhaupt Ziele? Betrifft das alle Ziele in unserem Leben?

An meinem Beispiel festgemacht, lautet das konkrete, messbare und erreichbare Ziel: Ich möchte heute in Reine ankommen. Ich habe mein Ziel erreicht! Zum Preis, dass ich erschöpft und gestresst am Ziel ankomme und keinen wirklich schönen Schlafplatz gefunden habe. Was ist wichtiger? Dass es mir gutgeht und ich im Einklang mit meinen augenblicklichen Bedürfnissen lebe oder, dass ich mein Ziel erreiche, welches ich mir in der Vergangenheit gesetzt habe?

Natürlich ist es sinnvoll, konkrete Ziele zu vereinbaren, wenn verschiedene Gewerke oder Arbeitsschritte einander bedingen.

Schwer auszumalen, dass deine Kollegen sich für dich freuen, wenn sie auf dich warten müssen, weil du die einzelnen Arbeitsschritte mit Genuss, aber ohne Zielstrebigkeit ausführst.

Ziele sollen konkret, messbar und erreichbar sein, damit wir sie eben erreichen können und daraus in der Konsequenz Selbstvertrauen schöpfen. Ich habe mir etwas vorgenommen und bin in der Lage das umzusetzen. Kann man so sehen.

Aber was ist der Grund dafür, dass gerade Menschen, bei denen bislang immer alles nach Plan lief, große Probleme bekommen, wenn sich große Veränderungen in ihrem Leben einstellen? Karriere, Familienplanung, Eigenheim: alles läuft nach Plan. Und dann bricht ein Teil weg und viele fühlen sich plötzlich orientierungslos, ohnmächtig und überfordert. Wie nachhaltig und wertvoll ist Selbstvertrauen, welches auf erfolgreich umgesetzten Plänen erwachsen ist, wirklich? Sind diese Menschen selbst schuld, weil sie keinen Plan B in der Schublade liegen haben? Zeigt sich Selbstvertrauen nicht vor allem dann, wenn man eben nicht weiß, wie es weitergeht? Wenn man sich selbst und dem Leben vertrauen kann, dass die Dinge schon den richtigen Lauf nehmen werden? Und woraus erwächst dieses Urvertrauen?

Ziele sind gut. Sie können uns motivieren, uns eine grobe Richtung vorgeben, Vorfreude entstehen lassen oder die Zusammenarbeit erleichtern.

Schwierigkeiten bereiten sie, wenn der Fokus zu sehr auf der Erreichung der Ziele liegt. Vor allem bei persönlichen, individuellen Zielen. Wir entfernen uns von uns selbst, von unseren Bedürfnissen, wenn wir alles dem Erreichen unserer Ziele unterordnen. Fokussierung auf das Ankommen, auf das Erreichen von Zielen bedeutet automatisch, dass wir nicht im Moment sein können. Wenn die Zufriedenheit, der innere Frieden und unser Glück in der Zukunft liegen oder vom Erreichen von Zielen abhängig sind, dann können wir im Jetzt nicht zufrieden sein. Dann liegt unser Fokus immer auf dem, was noch fehlt und nicht auf dem, was schon alles da ist.

Wer stirbt wohl glücklicher? Derjenige, der über die Autobahn alle seine Ziele im Eiltempo erreicht hat? Oder derjenige, der nicht eines seiner Ziele erreicht hat, aber jeden einzelnen Schritt über schöne Nebenstraßen genossen hat?

Wie viel Lebenszeit verbringst du am Ziel und wie viel auf dem Weg? Ist es nicht schlauer, den Fokus auf den Weg zu legen?

Wenn wir unser Ziel im Hinterkopf behalten, aber mit offenen Augen und Ohren durch das Leben gehen, dann werden wir nahezu jeden Tag vom Leben beschenkt. Du begegnest den Kleinigkeiten, die du nur siehst, wenn du bereit bist, dich überraschen zu lassen. Du spürst, dass es das Leben gut mit dir meint. Mut und Vertrauen entstehen, wenn man sich auf das Leben einlässt und es so nimmt, wie es kommt.

Wir sind es gewohnt, alles kontrollieren zu wollen, immer wissen zu wollen, was als Nächstes kommt. Aber hilft uns das wirklich? Ist das nicht eher eine illusorische Vorstellung, die uns viel mehr kostet, als sie uns bringt? Vielleicht sogar die Ursache für viele unserer Ängste ist?

Wie kann ich zum Zeitpunkt des Planens wissen, was ich morgen, übermorgen und danach brauche? Je mehr ich mich damit befasse, je mehr ich alle Eventualitäten vorausahnen möchte, desto mehr nähre ich die Angst.

Du weißt nicht, welche Aussicht dich auf dem Gipfel erwartet. Deshalb wähle den schönsten Weg hinauf.

Je weniger du planst, desto flexibler wirst du. Hürden und Hindernisse auf deinem Weg wirst du leicht überwinden, weil du sie nicht als solche wahrnimmst. Sie sind Teil deines Weges und keine Abweichungen von deinem Plan. Sie stärken dein Vertrauen, anstatt dich am Plan zweifeln zu lassen.

Lass dich von deinem Leben überraschen. Es schenkt dir immer genau das, was du gerade brauchst. Du musst es nur erkennen und solltest nicht daran vorbei radeln.

Wenn es auch dir schwerfällt loszulassen und dich auf das Leben einzulassen, dann melde dich bei mir. Ich freue mich von dir zu hören!