Schäm dich! Oder besser nicht?

Wie oft habe ich das schon gehört? Oft. Entweder an mich gerichtet oder an andere.

Schäm dich! Wie oft habe ich das über andere oder mich selbst gedacht? Noch öfter.

Und wie oft habe ich Worte nicht ausgesprochen, die mir auf der Zunge lagen oder Dinge nicht getan, auf die ich Lust hatte, um mich nicht zu blamieren oder mich nicht vor mir selbst zu schämen? Noch viel öfter.

Kennst du das Gefühl, beim Tanzen auf einer Party beobachtet zu werden? Das Gefühl, dich im wahrsten Sinn des Wortes nicht frei bewegen zu können? Warum macht es dir Spaß unter der Dusche zu singen, aber wenn einer zuhört, bist du offiziell heiser?

Wie frei sind wir wirklich, wenn wir Dinge nicht aussprechen oder tun, die uns am Herzen liegen? Wie oft bemerkst du, dass dein Gesprächspartner nicht versteht, was du ihm sagen willst, er sich aber nicht traut nachzufragen?

Was macht das wohl mit uns und unserem Selbstvertrauen?

Für manche mag das „normal“ sein – ich glaube, jedes Mal, wenn wir etwas nicht sagen oder nicht tun, schwächen wir unser Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Mit jedem Mal befeuern wir das Gefühl, dass unsere Worte nicht wert sind, ausgesprochen oder gehört zu werden. Wir vertrauen unseren Worten und Taten nicht.

Es sind nicht die anderen, die uns verbieten uns durch Worte und Taten auszudrücken: Es sind wir selbst!

Wir sind es, die uns permanent beobachten, kritisieren und über uns richten!

Bevor ich das erste Mal Karaoke mit Freunden spielte, spürte ich unglaublichen Widerstand in mir. Lass das sein. Geh nach Hause. Es ist eh schon spät. Du blamierst dich nur. Sie werden über dich lachen. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Mein Körper produzierte eine Vielzahl unangenehmer Gefühle, die mir sagten: Tritt den Rückzug an. JETZT!

Dann sang ich. Oder so ähnlich. Außer mir selbst hat kaum jemand wirklich Notiz davon genommen. Es hat auch nicht weh getan. Ganz im Gegenteil, es war, als ob ich da eine Handbremse gelöst hatte, die schon fast eingerostet schien.

LEINEN LOS!

Ich weiß nicht, ob ich es brauchen werde. Aber ich packe es ein. Man weiß ja nie. In knapp zwei Wochen kann viel passieren. Erst recht, da ich nicht weiß, wo die Tage beginnen, wo sie enden und was dazwischen geschieht. Sicher ist sicher.

8.000 Höhenmeter und 600 km über spanischen Boden später, reicht es mir. Warum schleppe ich das alles die Berge hoch und runter? Meine Beine sind vom Fahrradfahren auch so jeden Abend völlig erschöpft. Jedes Gramm weniger macht sich bei Gegenwind, bergauf und vor allem auf langer Strecke bemerkbar. Die zweite Hälfte meiner Radreise will ich erleichtert in die Pedale treten.

Zwei T-Shirts für einen eventuellen Restaurantbesuch, Medikamente für den Notfall, Wundsalbe und Pflaster für Stürze, Chlortabletten für Trinkwasser, Haarwachs für das Ego und vor allem eine Menge gedanklicher Worst Case Szenarien wandern in den Müll. Und plötzlich fällt alles viel leichter.

Natürlich fällt das Weniger an Gepäck auf. Noch viel mehr spüre ich allerdings, dass meine Gedanken leichter sind.

Die Sorge, was alles passieren kann, hat Platz für Vertrauen gemacht. Es wird schon alle gut gehen. Ich genieße die traumhafte spanische Natur. Ich staune über die Größe und Schönheit der Olivenhaine, nehme den Duft der Pinienwälder wahr und spüre die Freiheit in jeder Faser meines Körpers. Meine Aufmerksamkeit gehört dem, was gerade ist und ich fühle jeden Moment sehr intensiv. Dass ich dabei immer noch schwer schnaufend die Berge hoch und runter radel, fällt mir kaum auf. Ich mache mir weniger Gedanken, wo ich abends mein Zelt aufschlagen kann. Auch wenn ich hungrig und durstig bin, weiß ich, es wird zu rechten Zeit eine Tienda kommen, in der ich finde, was ich brauche. Es läuft fast alles wie von selbst. Und wenn nicht, dann stresst es mich nicht. Es ist, wie es ist.

Es ist erstaunlich zu erleben, wie kleine Veränderungen im Außen, große Veränderungen im Innen bewirken können.

Was kannst du über Bord werfen? Deine Sorge vor einer ungewissen Zukunft? Die Trauer um verpasste Gelegenheiten? Die Angst dich zu blamieren? Den (Irr)Glauben du schaffst das nicht? Die Gewohnheit alles kontrollieren zu wollen?

LEINEN LOS!

Finde dein eigenes Tempo, dann geht dir nie der Atem aus.

Ich versuche dran zu bleiben. Will den Windschatten nutzen, um Kraft zu sparen. Es bläst starker Gegenwind. Dem jungen Mann vor mir scheint das nichts auszumachen. Mir dagegen schon. Eine scharfe Linkskurve und es geht die Serpentinen hinauf in das andalusische Hochgebirge. Mit großem Aufwand und Krafteinsatz bleibe ich dicht hinter ihm. Fahr langsamer, Herrgott nochmal! Noch eine Schleife, dann muss ich ihn ziehen lassen.

Ich steige vom Rad. Setze mich auf einen Stein und spüre das Blut in meinen Adern pulsieren. Ich wollte Kraft sparen und bin nun völlig ausgepowert. Ich habe mich wohl übernommen. Was ist da gerade passiert? Habe ich gerade meine Grenzen kennengelernt? Bin ich wieder mal meinem Ego begegnet?

Warum muss ich mich immer so beeilen? Wieso fahre ich das Tempo eines anderen?

Was hat das Tempo der anderen mit mir zu tun? Der junge Mann hatte ein Rennrad und kein Gepäck. Ich war mit einem alten Trekkingrad und 25 KG Gepäck unterwegs. Er hat einen Tagestrip gemacht, ich eine Radreise. Warum lasse ich mich in meinem Handeln durch andere beeinflussen?

Eine zwölf tägige Radreise ist wie ein Spiegelbild des Lebens. Einige Passagen sind wunderschön, andere eher langweilig und monoton. Eben lief es wie geschmiert, jetzt hast du einen Plattfuß. Manchmal geht es bergauf, manchmal bergab. Heute hast du Gegenwind, morgen Rückenwind.

Welchen Sinn ergibt es, sich dabei zu beeilen? Ausgepowert und früher am Ziel sein? Das Leben an sich vorbeifliegen lassen? Ein Leben auf der Überholspur? Nicht mitzubekommen, wie schön es rechts und links ist? Immer auf das Ziel und eine starke Performance fokussiert zu sein? Ist das der Sinn des Lebens?

Das Leben hat dir eine Gangschaltung geschenkt, damit du sie einsetzt.

Wenn es läuft, gib Gas. Wenn es anstrengend ist, schalte einen Gang runter. Finde deine eigene Übersetzung und bleib in deinem Rhythmus.

Vor mir, hinter mir, rechts von mir, links von mir, bergauf, bergab, soweit das Auge reicht: Olivenhaine. Seit zwei Tagen das gleiche Bild. Ich verlasse den Asphalt und biege auf einen Schotterweg ab.

Es fängt an zu regnen. Zunächst genieße ich das und freue mich über die willkommene Abkühlung. Diese verwandelt sich von jetzt auf gleich in eine Wand aus Wasser. Als dann beide Reifen abrupt blockieren und ich im Schlamm feststecke, ist es vorbei mit der Freude. Der gut befahrbare Schotterweg entpuppt sich als klebriger andalusischer Lehmboden. Dieser hat sich um meine Reifen gewickelt und sich zwischen Schutzblech, Reifen und Bremse eingekeilt. Mit den Fingern versuche ich die teigartige Masse zu entfernen. Wer schon mal selbst Pasta Teig gemacht hat, weiß was das bedeutet.

Nach ca. 15 Minuten habe ich blutige Finger, aber das Vorder- und Hinterrad befreit, das Gepäck wieder aufgeladen und fahre weiter. Ich schaffte genau zwei Umdrehungen, dann ist alles wieder verklumpt. Ich wiederholte das Ganze und entschließe mich dazu, das Fahrrad zu schieben. Wieder schaffe ich genau zwei Umdrehungen.

Shit!

Was soll ich jetzt machen? Dann kommt mir eine Idee, für die ich später den Nobelpreis bekomme.

Denke ich zumindest. Ich nehme das Gepäck runter, montiere die Schutzbleche ab und lade das Gepäck aufs. Nur, es bringt rein gar nichts. Doch kein Nobelpreis!

Okay, langsam gehen mir die Ideen aus.
Fahrrad an einen Baum ketten, Wertsachen mitnehmen und laufen?
Per Anhalter auf einen Trecker warten, der sich erbarmt mein Fahrrad einzusammeln?
Warten bis es aufhört zu regnen und der Boden getrocknet ist?
45 Kg die sieben Kilometer bis zur nächsten Straße tragen? Auf keinen Fall!

Stille.

Dann gehe ich los. Zehn Meter gehen, Pause. Zehn Meter gehen, Pause. Zehn Meter gehen, Pause… Nach gut drei Stunden betrete ich Asphalt. Und als wenn mich das Leben belohnen will, wartet 500 m weiter eine Tankstelle mit Waschstraße auf mich.

Da ich keinen geeigneten Platz für mein Zelt finde, belohne ich mich mit einem echten Bett in einem Hostel.

Kurz vor dem Einschlafen frage ich mich, warum ich aus der Situation kein Drama gemacht habe.

Es ist der vierte Tag meiner Radreise von Malaga nach San Sebastian und ich durfte in den ersten drei Tagen erfahren, dass sich das Leben nicht an meine romantischen Vorstellungen hält: den ersten Platten noch am Flughafen, aus Versehen auf die Autobahn gefahren, ungewöhnlich viel Regen in Andalusien, die Anstrengung des permanenten Bergauf-Fahrens total unterschätzt und ein Navi, das jede Gelegenheit falsch abzubiegen, sicher wie einen Elfmeter verwandelt.

Ich habe bereits stundenlang geflucht, gezweifelt und das Schicksal verdammt. Meine Wut, mein Selbstmitleid und meine Sorge scheinen aufgebraucht. Ich habe losgelassen. LEINEN LOS!

Nimm an, was ist. Widerstand kostet nur unnötig Kraft!

Bevor ich schlafen gehe, schreibe ich mir auf:

Bleib im Moment und nimm an, was ist. Das macht alles viel leichter.
Mach Dich nicht zum Opfer, dann brauchst Du keine Schuldigen und kein Drama.
Eine Radreise ist ein Spiegel des Lebens. Welchen Sinn ergibt es, früher ans Ziel zu kommen?

Und in Gedanken an das „Rheinische Grundgesetz“ schlafe ich mit einem Lächeln ein.

Et es wie et es. Et kütt wie et kütt. Et hätt noch immer jot jejange.